Grundsatzfrage 1: Staatsbahn oder Wettbewerb?

Zwanzig Jahre ist es jetzt her, dass aus der Deutschen Bundesbahn und Deutschen Reichsbahn die Deutsche Bahn AG wurde. Das sollte eigentlich nur die erste Stufe der so genannten Bahnreform sein: Später sollten die Verkehrsunternehmen in von der Netzgesellschaft unabhängige Gesellschaften ausgegliedert werden und in den Wettbewerb mit Konkurrenten treten. Dazu ist es nie gekommen: DB Netze und DB Bahn, wie sie heute heißen, befinden sich immer noch unter demselben Konzerndach, und den Wettbewerb gibt es nur im Nahverkehr und dort nicht gegenüber dem Kunden, sondern gegenüber den landeseigenen Bestellerorganisationen. Im Fernverkehr dagegen steht die DB nach wie vor fast alleine da. Der Konkurrent HKX hat sogar jetzt angekündigt, sein Angebot aus Kostengründen zu reduzieren. Es stellen sich zwei Fragen:

  1. Warum kommt der Wettbewerb im SPFV in Deutschland nicht in Gang?
  2. Ist ein Wettbewerb überhaupt sinnvoll?

Zur ersten Frage hatte ich ja 2009 schon etwas geschrieben. Zu den dort erwähnten Gründen kommt meines Erachtens noch einer dazu: In Deutschland gibt es einfach nicht „die“ Strecke, auf der es einem Konkurrenten ein Leichtes wäre, Marktanteile abzugreifen. In Italien (Mailand–Rom), Tschechien (Prag–Ostrau) und Österreich (Wien–Salzburg) sind die erfolgreichen „Privaten“ nämlich auf genau solchen Strecken aktiv. In Deutschland gibt es aber so viele Ballungsräume und Verbindungen zwischen ihnen, dass sich der Markt viel stärker segmentiert.

Kommen wir zur zweiten Frage, die ich vor allem aus Kunden- und verkehrspolitischer Sicht beantworten will. Als Kunde wünsche ich mir, wenn ich nicht gerade in einer vom Wettbewerber direkt angefahrenen Stadt wohne, gute Anschlüsse an andere Züge und damit auch durchgehende Fahrscheine. Weiterhin ist wichtig, dass ich im Falle eines Anschlussverlusts oder einer Verspätung nicht „im Regen“ stehen bleibe, sondern möglichst bald und ohne Zusatzkosten weiter befördert werde. Wichtig ist vielen Fahrgästen auch, dass einigermaßen spontane Abfahrten möglich sind, wie es der Hauptkonkurrent Auto auch bietet. Das alles ist bei den Wettbewerbern nicht möglich: Die Fahrscheine sind nur dort gültig und Anschlüsse der Regionalzüge meist an die Fernzüge der DB ausgerichtet. Die Buchung von Umsteigeverbindungen wird dadurch unnötig schwierig, insbesondere wenn wie beim Thalys auch noch kontingentierte Tarife und eine Reservierungspflicht dazu kommen. Fällt ein Zug eines Wettbewerbers aus, so kann man nicht einfach den nächsten DB-Zug benutzen oder umgekehrt, sondern muss erst einen neuen Fahrschein kaufen und nachher dessen Erstattung beantragen. Und schließlich bieten die Wettbewerber keinen dichten Takt wie die meisten DB-Fernverkehrslinien, sondern beschränken sich auf wenige Fahrten am Tag. Diese „zerhauen“ teilweise auch noch die Taktfahrpläne oder deren Symmetrie, so soll die unpassende Fahrplanlage der RB 42 Münster–Essen mit dem HKX zusammen hängen.

Im oben verlinkten Artikel war ich ja noch etwas unschlüssig, mittlerweile geht meine Ansicht immer mehr in die Richtung, dass man als Hauptkonkurrent im SPFV Auto und Flugzeug und nicht andere SPFV-Betreiber sehen sollte. Meiner Ansicht nach spricht nichts dagegen, ein Bestellerprinzip auch im Fernverkehr einzuführen: Verbindungen werden nach ihrer optimalen Netzwirkung zentral geplant und dann in einer Ausschreibung an einen bestimmten Betreiber vergeben. Da die Zahlungsbereitschaft im FV tendenziell höher ist als im NV, könnten die Bestellerentgelte hier durchaus auch negativ sein, d.h. der Betreiber muss einen Teil seines Gewinns an den Besteller zurück zahlen. Wenn man es geschickt macht, kann man die Verträge so gestalten, dass trotzdem noch ein gewisser unternehmerischer Spielraum vorhanden bleibt. z.B. könnte dasjenige Unternehmen den Zuschlag bekommen, das die meisten oder hochwertigsten Zusatzleistungen über die vertraglichen Vorgaben hinaus anbietet. Zufälligerweise ist das ein Modell, das stark dem britischen ähnelt, mehr darüber in der englischsprachigen → Wikipedia.

Ein anderes interessantes Modell hat das Land, das in Eisenbahnfragen oft als Vorbild genannt wird: die Schweiz. Dort besitzen nur die SBB eine so genannte Fernverkehrskonzession. Diese beinhaltet nicht nur die Genehmigung, SPFV durchzuführen, sondern ist auch mit einem staatlich festgelegten Mindestangebot verbunden. Darüber hinaus steht es den SBB frei, zusätzliche Fahrten anzubieten. Aus den Erlösen der rentablen Fahrten werden dann die unrentablen Pflichtfahrten quersubventioniert. Auch die Fahrpreise sind reguliert, und um sicherzustellen, dass die SBB effizient arbeiten, gibt es regelmäßige Benchmarks. Der Marktzugang für Dritte ist auf nationalen Strecken praktisch nicht gestattet, um den SBB keine Erlöse und damit die Möglichkeit der Quersubventionierung wegzunehmen. Nur internationale Linien von anderen Anbietern müssen aufgrund von bilateralen Verträgen mit der EU genehmigt werden.

Fazit: Mir gefallen beide Modelle besser als die derzeitige Situation in Deutschland, die „nichts Halbes und nichts Ganzes“ ist. Noch wäre es auch möglich, privaten Anbietern das „Rosinenpicken“ zu verbieten, aber das geplante Vierte Eisenbahnpaket der EU soll dem wohl einen Riegel vorschieben. Auch ohne dieses Gesetzespaket ist es wohl sehr unwahrscheinlich, dass die Organisation des SPFV in Deutschland komplett umgekrempelt wird. Sofern es beim derzeitigen Modell bleibt, würde ich mir aber ein Mindestmaß an Kundenorientierung wünschen, der gleichzeitig den Wettbewerbern zugute kommen würde:

  • Einschluss von Nahverkehrsvor- und -nachläufen auch bei DB-Wettbewerbern
  • Unkomplizierte wechselseitige Anerkennung der Fahrkarten im Fall von Verspätungen/Anschlussverlusten
  • vermehrte Schaffung/Förderung von neutralen Verkaufsstellen, die Fahrscheine aller Anbieter verkaufen können
  • möglichst keine Zerstörung von Takt und Symmetrie der Fahrpläne durch einzelne Fahrten von Drittanbietern

Wenn dies alles gegeben ist, blicke ich einem eventuellen Wettbewerb ent- bzw. im positiven Sinne gespannt entgegen.

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