Anhänglich?

„Die Bahn kann doch einen Wagen anhängen“ – so lautet der wohl am häufigsten gehörte Kommentar in vollen Zügen, wie man sie im Fernverkehr vor allem am Anfang und am Ende von langen Wochenenden vorfindet. Aber stimmt das denn wirklich?
Zunächst einmal: Wo immer es möglich ist, haben zu den Stoßzeiten die Züge tatsächlich mehr Wagen oder fahren in Doppel- statt Einzeltraktion (also mit zwei gekuppelten Triebwagen). Allerdings ist die Länge der Züge vor allem durch die Bahnsteiglänge begrenzt. Viele Fernzüge sind genau so lang wie der kürzeste Bahnsteig entlang der Strecke. Würde man die Züge also weiter verlängern, könnte man an einigen Bahnhöfen nicht mehr halten, da ein Ausstieg ins Schotterbett unbequem und gefährlich und daher aus gutem Grund nur in Notfällen erlaubt ist.
Bleibt die Möglichkeit, zusätzliche Züge einzusetzen. Hier kann man davon ausgehen, dass alles, was irgendwie fahrfähig ist, an Freitagen und Sonntagen auf dem deutschen Fernstreckennetz unterwegs ist. Viele Züge, z.B. der IC 1948 „Kyffhäuser“ Leipzig–Frankfurt oder der durch seine historischen Wagen bekannte IC 2417 Flensburg–Köln fahren nur dann. Ein Problem dabei ist aber der Fahrplan: Ein zusätzlicher Zug muss irgendwie zwischen die anderen Züge auf die häufig schon überlasteten Strecken gequetscht werden. Manchmal geht das überhaupt nicht, manchmal haben die Züge eine unattraktive Fahrplanlage, so dass die Anschlüsse ungünstig sind. Früher war es üblich, den Verstärkerzug direkt vor dem Hauptzug fahren zu lassen; das geht heute aus verschiedenen Gründen nicht mehr so einfach. In manchen Fällen könnten Streckenaus- oder -neubauten Entlastung bringen, die scheitern aber häufig am staatlichen Geldmangel oder an der langen öffentlichen Diskussion.
Ein Grund, warum nicht noch mehr Züge eingesetzt werden können, ist allerdings auch der Wagenmangel. Die Schuld daran schieben sich DB, Eisenbahn-Bundesamt und Hersteller gegenseitig in die Schuhe. Erstere mag einfach zu spät und zu wenige Züge bestellt haben, außerdem waren die technischen Anforderungen nicht immer streng genug (Stichwort Wetterfestigkeit). Das EBA steht dagegen im Ruf, die Sicherheitsbestimmungen sehr restriktiv auszulegen und dadurch die Zulassung von Fahrzeugen unnötig zu verzögern. Die Bahnindustrie wiederum wird für die verspätete Auslieferung z.B. der neuen ICE-Baureihe 407 und fehlerhafte Konstruktion von anderen Fahrzeugen (z.B. Achsen diverser Baureihen) verantwortlich gemacht. Wer hier nun wirklich der „Schuldige“ ist, lässt sich objektiv kaum beurteilen – wahrscheinlich haben alle drei gleichermaßen ihren Anteil daran.
Dass zu Spitzenzeiten nicht beliebig viele Wagen zur Verfügung stehen, hat allerdings natürlich auch Kostengründe. Das Schimpfen auf die „Börsenbahn“ drängt sich sofort auf, ist aber nur teilweise berechtigt, denn niemand gibt Geld für Kapazitäten aus, die nur an wenigen Tagen im Jahr genutzt werden. Wer mietet sich eine Wohnung mit zwei zusätzlichen Zimmern oder kauft ein zweites Auto, nur um die Gäste der einmal jährlich stattfindenden Geburtstagsfeier beherbergen bzw. transportieren zu können? Und Autobahnen werden auch ausgebaut, um im Idealfall den Berufs-, nicht aber den Ferienreiseverkehr aufnehmen zu können. Abgesehen davon, dass die für schwach ausgelastete zusätzliche Züge entstehenden Kosten nicht ohne Einfluss auf die Fahrpreise bleiben dürften.

Gelegentlich wird auch eine Reservierungspflicht gefordert, um überfüllte Züge (oder gar eine Zwangsräumung derselben) zu verhindern. Diesen Zweck würde sie zwar erfüllen, aber alle Fahrgäste, die heute immerhin noch im Gang mitfahren könnten, müssten sich dann ein anderes Verkehrsmittel suchen – vom Flexibilitätsverlust mal ganz abgesehen. Und wenn es nur darum geht, frühzeitig Bescheid zu wissen, dass ein Zug voll sein wird: Die Möglichkeit, zu reservieren und ggf. keinen Platz zu bekommen, besteht ja bereits heute, ebenso wie entsprechende Warnungen bei bestimmten Zügen in der Reiseauskunft.

Fazit: Die Situation wird sich mit der Auslieferung der BR 407, die ab Dezember stattfinden soll, etwas entspannen, Wunder sind aber nicht zu erwarten. Für Reisen zu Stoßzeiten empfiehlt es sich, so früh wie möglich zu reservieren. Dann hat man den Sitzplatz sicher, außer natürlich im (nie zu vermeidenden) Fall, dass Wagen oder Zug(teil) ausfallen oder im (sehr seltenen) Fall, dass der ganze Zug wegen Überfüllung geräumt werden muss.
Eventuell kann es auch helfen, in der Auskunft das Feld „Schnelle Verbindungen bevorzugen“ abzuwählen – dann ist man u.U. etwas länger unterwegs, dafür aber oft in leereren Zügen.
Für alle, für die es nicht unbedingt der Zug sein muss, gibt es außerdem gute Nachrichten von der Bundesregierung: Sie hat vor kurzem den Fernbusverkehr (voraussichtlich ab 1. Januar 2013, vorbehaltlich der Zustimmung des Bundesrates) vollständig freigegeben, so dass hier mit preiswerter (allerdings oft auch langsamerer) Konkurrenz zu rechnen ist. Wettbewerb auf der Schiene gibt es nach wie vor nur punktuell, zum Beispiel durch den HKX, der im Juli zwischen Hamburg und Köln in Betrieb gegangen ist. In diesem Sinne wünsche ich euch, das Leben nicht allzu sehr in vollen Zügen zu genießen ;)!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert